Diego Lerman

2014
Refugiado
Diego Lerman
Argentinien
94′
Der Junge Matias und seine Mutter Laura verlassen in Panik die Wohnung, in der sie leben, nachdem die Frau einmal mehr von ihrem Mann geprügelt wurde. Häusliche Gewalt nennt man das, und man weiss, dass sie verbreiteter ist, als man denkt. Matias ist achtjährig und Laura wieder schwanger. Zusammen suchen Mutter und Kind einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen können und unerreichbar für den Mann und Vater. Diego Lerman erzählt von einem Flüchtlingspaar in der eigenen Stadt. Buenos Aires ist austauschbar, denn das, was die beiden erleben, könnte sich überall abspielen, auch bei uns. Packend ist der Film inszeniert, konsequent beschreibt der Regisseur die Wahrnehmung des Kindes in einer Situation, die für die Mutter unhaltbar geworden ist. Es ist zutiefst beeindruckend, wie Diego Lerman es schafft, von der Gewalt an einer Mutter zu erzählen, ohne äusserliche Gewalt zu zeigen. Die Absenz des Mannes macht einen schönen Teil der ungemeinen Kraft dieses Filmes aus, der uns nach innen blicken lässt, indem er aufs Ablenkende an der Oberfläche verzichtet. Der Regisseur von «La mirada invisible» setzt zusammen mit seiner Co-Autorin María Meira dort an, wo die Verzweiflung die Flucht als letzten Ausweg fordert: Laura nimmt ihren Buben und will ganz einfach weg. Wohin, ist ihr eigentlich unklar, sicher nicht zurück. Im Frauenhaus mag sie auch nicht bleiben. Aber wohin? Wir lesen täglich von Menschen, die auf der Flucht sind vor brutalen Regimen oder aus wirtschaftlicher Not. Diego Lerman widmet sich jenen, die mitten unter uns abhauen wollen. Auslöser für seinen Film war eine von ihrem Mann malträtierte Frau, die er eines Tages vor dem Hauseingang vorfand. Er begann zu recherchieren und stiess auf die Gewalt, die mitten in unseren Gesellschaften ausgeübt wird in einem Ausmass, das erschreckend ist. Der Filmemacher wählte den unschuldigen Blick eines aufgeweckten Knaben (mit intensivem Blick verkörpert durch Sebastián Molinaro), der wahrnimmt, aber nicht wirklich einordnen kann. Entstanden ist ein eigentlicher Krimi, der die schiere Ausweglosigkeit fühlbar macht. Lerman schafft es mit seiner in jedem Augenblick dichten Inszenierung, uns in die Situation der beiden zu versetzen, mit ihnen auf der Flucht zu sein und dabei gewahr, dass wir ja eigentlich in der eigenen Stadt sind. Buenos Aires liefert Fassaden, die überall in der Welt stehen könnten, jene Fassaden, die verbergen, was sich hinter ihnen abspielt. Das ist ein Thriller, der uns hineinführt in ein tabuisiertes Thema und über die Wahrnehmung von Matías teilhaben lässt. Unglaublich intensiv.
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2010
La mirada invisible
Diego Lerman
Argentinien
93′
Diego Lerman erzählt - dem Roman «Ciencias morales» (Sittenlehre) von Martín Kohan folgend - von einer 23-jährigen Schulangestellten, die zur Zeit der Diktatur in Argentinien als Aufseherin für Ordnung sorgen muss und dabei eine Beobachtende, Spähende wird. Sie will alles richtig und korrekt machen, sollte neutral und streng sein, gleichzeitig lebt sie nicht ohne Empfindungen und Emotionen. La mirada invisible ist ein starker Film über den Alltag unter einem Regime, das dem freien Leben keinen Platz einräumt, eine der grossen Entdeckungen vom Filmfestival Cannes. Lerman schafft es mit einem hervorragenden Schauspielerensemble, die Mechanismen aufzuzeigen, die unter den unmenschlichen Bedingungen einer Diktatur wichtig werden, das schwindende Vertrauen in alle und alles, die Gefahr, im Räderwerk der Perversion eine Rolle zu spielen. ************* Die Konformistin Es gab eine Zeit im europäischen Kino, die sehr politisch war und dies nicht nur in Bezug auf Themen - sie war es auch in der Form. Zu den grossartigsten Filmen jener Tage gehören Werke wie Il conformista von Bernardo Bertolucci, La caza von Carlos Saura oder Meres tou 36 von Theo Angelopoulos. Die Zeiten haben sich gewandelt und mit ihnen auch das Kino. Das kann man ohne Nostalgie und Verklärung feststellen, das liegt in der Natur der Dinge. Manchmal taucht im Kino ein neuer Film auf, der einen an dieses Potenzial der Siebenten Kunst erinnert. Das kann ein Film wie Lola von Brillante Mendoza sein, in dem der Philippine die adäquate, radikale Form der Annäherung an seine Lebensrealität sucht und findet, das kann aber auch der Film eines jungen Argentiniers sein, der sich einer Zeit in seiner Heimat widmet, in der er selber gerade mal reif für den Kindergarten war. Diego Lerman blickt in La mirada invisible zurück in die Phase der argentinischen Militärdiktatur und damit in eine Erfahrung, die verschiedene Länder Lateinamerikas teilen. Nun haben wir, mag man sagen, schon einige Spielfilme gesehen, die aus dieser Zeit erzählen und von den Abscheulichkeiten, die Militärköpfe zu organisieren und zu befehlen imstande sind. Lerman interessiert sich nicht dafür, er erzählt kein trauriges Fait divers. Dem preisgekrönten Roman «Ciencias morales» des Schriftstellers Martín Kohan folgend, betrachtet der Filmemacher vielmehr das Phänomen der Anpassung und stillen Unterdrückung. Und er tut dies mit einer atemberaubenden Konsequenz, formal kontrolliert und präzis, so dass man sich im Kino bald einmal auch an diese grossen Tage des politischen Films in Europa erinnert fühlt. Der Nachgeborene fragt sich, wie es überhaupt möglich war, dass in seiner geliebten Heimat Argentinien eine Diktatur sich aufbauen und halten konnte. Und er betrachtet das Phänomen des vorauseilenden Gehorsams am kleinen Kosmos einer Schule, an der kleinen Figur einer Angestellten und an den kleinen Formen der Unterdrückung, die die grossen spiegeln und möglich machen. Lerman hat mit Omar Núñez und Juliet a Zylberberg zwei grossartige Schauspielende zur Seite und ein visuelles Bewusstsein, das den Atem stocken lässt. Walter Ruggle
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