Yesim Ustaoglu

2012
Araf
Yesim Ustaoglu
Türkei
125′
Zehra ist eine junge Frau, die am Übergang zum Erwachsensein steht. Um sie herum wirkt vieles desolat, ein Gefühl, das noch verstärkt wird durch das Klima. Das fröhliche Wesen von Olgun, der seine Gefühle Zehra gegenüber nicht verheimlicht, macht sie auch nicht glücklicher. Sie träumt davon, anderswohin zu gelangen, in ein wirkliches Leben. Mahul ist ein Fernfahrer, der immer mal wieder an der Raststätte vorbeikommt, in der Zehra arbeitet. Könnte er es sein, der sie von hier wegbringt? Schweigsam, ein leicht angegrauter Bartwuchs, das rosenkranzähnliche Komboloi dauernd in den Händen, ist er der «Mann», während Olgun eher wie der Spielgefährte wirkt. Das Erwachen wird hart sein. Araf bedeutet soviel wie Limbo, ein Zustand des Übergangs, der Schwebe. Es ist ein Raum zwischen zwei Dingen, Somewhere in Between, wie der englische Untertitel es ausdrückt. Das wird auch perfekt verkörpert durch den Ort dieser Raststätte mit Tankstelle, die sich manchmal in einer Art Parallelwelt zu befinden scheint, von wo aus man ein anderes Leben sich abspielen sieht, jenes der Fernstrasse, ganz nah und doch so weit. Dieses «zwischen zweien sein», das ist auch das, was Zehra und Olgun erleben: Sie sind noch nicht erwachsen, aber auch keine Kinder mehr. Es gibt da auch noch diese Kleinstadt, die am Untergehen zu sein scheint, wie seine Industrie: Die Zeit steht still. Die Kamera (Michael Hammon) der Regisseurin Yesim Ustaoglu erfasst meisterlich diesen Zwischenzustand. Sie versteht es, all die Ambivalenzen zu erfassen in denen die Figuren aus ihrem Schwebezustand auszubrechen versuchen, aber gleichzeitig Angst davor haben nur schon vor dem Gedanken, ihn zu verlassen. Doch die wirkliche Glanzleistung der Filmemacherin ist es, dass sie trotz den oft düsteren und kühlen Tönen des anatolischen Winters Bilder geschaffen hat, die nichts depressives an sich haben, ganz im Gegenteil. Es gibt diese lichterfüllten Momente, die die Erzählung durchziehen und diese Bilder die ein subtiles visuelles Geflecht der Emotionen erzeugen. Die Leidenschaft, die die Filmemacherin ihren Figuren gegenüber zeigt, ist derart stark, dass man spürt, dass sie sie nie allein lassen würde. Verwurzelt in einer traurigen Wirklichkeit ist Araf ein Film voller Hoffnung. Martial Knaebel
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2008
Pandora's Box (2008)
Yesim Ustaoglu
Türkei
109′
In einem kleinen Dorf am Schwarzen Meer verschwindet eine alte Frau spurlos. Ihre drei erwachsenen Kinder reisen aus dem fernen Istanbul an, um die vermisste Mutter in den Bergen zu suchen und sie in die Stadt mitzunehmen. Dort wird klar, dass die Mutter an Alzheimer erkrankt ist und mehr Betreuung brauchen wird, als ihre Kinder sich das vorgestellt hatten. Aber nicht nur das Leben mit der Mutter stellt sich als Herausforderung heraus, auch die Beziehung der Geschwister untereinander zeigt ihre offenen Wunden. Die neuen Umstände zwingen die drei, auch untereinander klar zu kommen. Es ist der Enkel, der sich schliesslich der anrührenden Grossmutter annimmt und sie so nimmt, wie sie ist. Das ist ein Film, der ans Herz geht und der uns alle wohl deshalb so berührt, weil vieles uns vertraut vorkommt. Und sicher auch, weil die 90-jährige Tsilla Chelton die Mutter so ergreifend spielt. Sie ist aus Tatie Danielle noch in bester Erinnerung. *************** Vom Älterwerden Die türkische Regisseurin Yeșim Ustaoğlu hat mit ihrem Spielfilm Reise zur Sonne 1999 grosses Aufsehen erregt und zahlreiche Preise an den Festivals der Welt geholt. Unter ihnen den Internationalen Friedensfilmpreis. Danach erzählte sie mit Waiting for the Clouds eine Geschichte aus der Bergregion an der Schwarzmeerküste, an der sie selber aufgewachsen ist. Auch Pandora’s Box spielt teilweise dort in einer Region, die in mancherlei Hinsicht an die Schweiz erinnert, mit ihren Bergdörfern, dem Leben in der Natur und mit Menschen, die das Leben auf den eigenen Schultern tragen - Life on their Shoulders hiess ein Dokumentarfilm, den Yeșim Ustaoğlu hier gedreht hatte und in dem sie sich den realen Menschen näherte. Nusret, die alte Frau in Pandora’s Box, ist genau eine solche Frau. Sie hat ihr Leben im Dorf an der Schwarzmeerküste verbracht, den Mann irgendwann verloren, die Kinder Nesrin, Mehmet und Güzin sind alle drei nach Istanbul gezogen, in die grosse Stadt am Bosporus. Dort leben sie ihr Leben, in dem sich nicht alle Träume erfüllt haben, und hier werden sie von der Nachricht aufgeschreckt, dass die Mutter verschwunden sei. Es ist dies der Ausgangspunkt zu Pandora’s Box, einem Film, der von den familiären Beziehungen erzählt und davon, wie die Kinder mit einer Mutter umgehen sollen, die an Demenz erkrankt ist. Die Tatsache, dass sie vermehrte Aufmerksamkeit braucht und Betreuung ist das eine, das andere: Die drei Kinder werden ihres eigenen Lebens zwangsläufig wieder stärker gewahr. Ustaoğlu fügt die zwei Entwürfe zusammen: Hier die alte Frau in ihrem Haus fern der pulsierenden Welt, dort die Kinder und der Enkel Murat. «Der Idealismus wird schleichend ersetzt durch Konformismus», sagt die Regisseurin und bringt mit ihrem Film ein zentrales Problem unserer modernen Gesellschaften auf den Punkt. Walter Ruggle
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1999
Reise zur Sonne (1999)
Yesim Ustaoglu
Türkei
110′
In «Günese Yolculuk» (Reise zur Sonne) hat die türkische Regisseurin Yeșim Ustaoğlu in langwierigen Dreharbeiten mit militärischen Interventionen gleich mehrere Themen aufgegriffen, die in ihrer Heimat eigentlich tabu sind. Sie redet von Kurdistan, sie zeigt Aufnahmen von staatlicher Gewalt, und sie macht auf bewegende Art vor allem eines deutlich: Frieden ist dann möglich, wenn man sich wechselseitig ernst nimmt und akzeptiert. Um den anderen zu respektieren, müsste man sich bewusst werden, dass man an den meisten Orten dieser Welt ein Fremder, eine Fremde ist und man genauso gut in der Haut des anderen stecken könnte. Zwei junge Männer aus entgegengesetzten Regionen der Türkei begegnen sich in diesem wunderbaren Film zufällig in Istanbul und werden Freunde. Beide hoffen auf eine bessere Zukunft und versuchen, in der Grossstadt ein Auskommen zu finden. Berzan stammt aus einem kurdischen Dorf im äussersten Osten und schiebt als fliegender Händler jeden Morgen seinen Karren mit Musikkassetten in die Stadt. Mehmet ist erst kürzlich aus der Westtürkei hier angekommen und findet einen Job bei den Wasserwerken, wo er mit einem archaisch anmutenden Hörrohr die Strassen nach geborstenen Leitungen abhorcht. Es ist, als würde er nach Strömungen suchen, die an der Oberfläche nicht wahrnehmbar sind, aber sehr wohl vorhanden und lebensspendend. Mehmet hat es nie interessiert, dass Berzan Kurde ist. Was für ihn zählt, sind die Träume der beiden, die Freude am Zusammensein, die Nähe, die wohl tut. Wichtig ist ihm ihre Freundschaft, in der es kein Wenn und Aber gibt, in der das Zwischenmenschliche entscheidend ist und die Sehnsucht. Berzan sehnt sich nach seinem Heimatdorf zurück, wo er glaubt, dass seine Verlobte auf ihn warten würde, während Mehmet sich in Istanbul in die feinfühlige Arzu verliebt hat. Sie war in Deutschland aufgewachsen. Inzwischen ist Arzu in ihre alte Heimat zurückgekehrt und muss hier erleben, wie rasch einer in den Verdacht kommen kann, der politischen Opposition anzugehören. Die Regisseurin erzählt ihren hochgradig politischen Stoff auf packende Weise. Atmosphärisch dicht und stimmungsbewusst schildert sie Freundschaft und Liebe, feinfühlig charakterisiert sie ihre Figuren und eindrücklich gestaltet sie die Reise in den äussersten Osten ihrer Heimat, in bei uns kaum bekannte Regionen. Mit Geschick versteht Yeșim Ustaoğlu es dabei, politische Ereignisse in die erfundene Handlung einzuflechten und ein subtiles, vielschichtiges Drama von einer Sprengkraft zu gestalten, die an Herz wie Geist rührt.
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