Zeit gestalten

Film gehört zu den grossen Künsten, die sich in der Zeit entfalten. Filmschaffende gestalten mit der Zeit, bestimmen über die Montage die Dauer von Einstellungen und also unsere Wahrnehmungszeit. Sie modellieren die Zeit, wie Andrei Tarkowski das so schön beschrieben hat. Einige haben es darin zur Meisterschaft gebracht und nehmen uns mit auf Zeitreisen, die auch unsere Wahrnehmung von Zeit schärfen können. Wir haben hier eine Auswahl zusammengestellt mit Filmen, in denen die Zeit der Bilder Erzählelement ist. Wir laden ein in den filmischen Skulpturenpark der Zeit und wünschen anregendes Wahrnehmen.

Es war einmal in Anatolien
Nuri Bilge Ceylan
Türkei
157′
Irgendwo in Anatolien. Es ist Nacht, und eine Gruppe von Leuten ist im Dunkel auf der Suche nach einem Tatort. Ein Mann soll umgebracht worden sein. Der Untersuchungsrichter will Fakten und Klarheiten, die Polizei betreut die Verdächtigten, ein Arzt soll die Obduktion vornehmen. Wo nur ist der Körper begraben? Vor uns enfaltet sich ein Krimi in Zeitlupe, hinein choreografiert in die Landschaft und in die Nacht. Über die Figuren erzählt sich das Leben hier, weit weg von allem und mittendrin. Aus dem Dunkel der Nacht tauchen ihre Geschichten an den Tag, ihre kleinen Dramen und das, was die Region prägt und andere abgeschiedene Flecken auf diesem Planeten. Nuri Bilge Ceylan zeigt uns, was in seiner Heimat im Verborgenen schlummert und wie wenige Sätze unter Umständen erhellend sein können. Die «Comédie humaine» hat er in halluzinierenden Nachtaufnahmen festgehalten. * * * * Aus dem Dunkel ans Licht Was ist ein Krimi? Das Onlinelexikon sagt: «Bei einem Krimi geht es in der Regel um ein Verbrechen, meist einen Mord oder ein sonstiges rechtlich schweres Vergehen, das den Leser, Hörer oder Zuschauer in Spannung versetzen soll. Mehrheitlich spielt ein Kommissar, ein Detektiv oder eine andere Hauptperson die Rolle des Ermittlers. In dieser Rolle findet er den eigentlichen Grund des Geschehens - häufig mit Zwischenfällen - heraus und entdeckt den Täter. Realistische Handlungsorte und gesellschaftliche Situationen, das heisst, die Anpassung an die jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen seiner Entstehungszeit, sind weitere Punkte, die Krimis gemeinsam haben.» Once Upon A Time in Anatolia vom türkischen Fotografen und Filmemacher Nuri Bilge Ceylan (Uzak) erfüllt alle diese Grundanforderungen eines Krimis, und dennoch überrascht uns der Film, weil er sich gegen alle gängigen Muster sträubt. Da war eine Tat, da sind die Täter und da läuft die Suche nach dem Opfer. Wir sehen, oder besser: Wir erfahren die Suche im Dunkeln. Aber die Spannung, das, was uns in diesem Krimi in Zeitlupe in Bann halten kann, sind nicht irgendwelche hektischen äusseren Ereignisse oder das schlaue Gebahren eines Kommissars, der den Überblick hat. Bei diesem Krimi sind die Zwischenräume und die Zwischenzeiten nicht ausgespart, wir sind mitten drin in der Suche nach der Wahrheit. Und wir merken bald einmal, dass die Suche nach dem Opfer viel stärker als gewohnt eine Betrachtung der Situation ist, in der die Tat geschehen konnte, der Umstände, die sie möglich machten und der menschlichen Rätsel, die sie und das Ganze in sich birgt. Der Kommissar hat ein krankes Kind zuhause, der Arzt ist geschieden, der Polizist kämpft mit der Ungeduld, der Staatsanwalt versteckt sich vor Fakten. Die Magie dieses Filmes und die Erzählkunst von Nuri Bilge Ceylan entfalten sich von innen heraus in einer Art bewegter Beschaulichkeit. Wenig geschieht im Sinne von äusserlicher Aktion, viel erhellt sich aufgrund des Geschehens und über die Äusserungen der einzelnen Figuren. Am Ende ist viel weniger wichtig, wer genau hinter der Tat steckt als warum sie möglich wurde und wer alles was zu verbergen hat. Ceylan will von der Rätselhaftigkeit seiner eigenen Heimat erzählen, ohne dass er die Rätsel alle lüften könnte und möchte. Im Gegenteil: Er bewahrt einige bravourös. Von ungemeiner Schönheit und Dichte sind die Nachtaufnahmen von Kameramann Gökhan Tiryaki, in denen auch der Wind zu uns sprechen kann. Diese feinen Abstufungen in den Tönen und Lichtspielen bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Eine Sinnesreise also auch. Walter Ruggle
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Ein Krimi kann sich auch in Zeitlupe abspielen, wenn eine Gegend langsamer tickt. Die Spannung entfaltet sich im Innern der Szenen.
In der Zürcher Zeit-Ausstellung gibt's einen Ausschnitt aus diesem Film, hier den ganzen zur Zeit und dem Kernstück der Uhrmacherei.
Momente aus dem Leben zweier einsamer Figuren, die Zeit brauchen, um einander in der grossen Stadt Buenos Aires näher zu kommen.
Was bestimmt unsere Wahrnehmung von Zeit? Ein poetisches und bildstarkes Filmessay über den Fluss der Zeit und was ihn prägen kann.
Markus Raetz (2007)
Iwan Schumacher
Schweiz
75′
Die Kunst von Markus Raetz wirkt federleicht und zärtlich beschwingt. Man schaut und staunt und ist verzückt, fragt sich, was einem die Augen mit seiner Hilfe vorzaubern. Iwan Schumacher hält das in seinem Porträt so bewegt fest, dass einem das Schauen und Staunen nie vergehen möchten und man erkennt: Wahrnehmung ist das halbe Leben. Danke, Markus Raetz. Am 14. April 2020 ist der Maler, Bildhauer und Fotograf 78-jährig gestorben. Im internationalen Kunstbetrieb war der Schweizer eine etablierte Grösse. Für den Film von Iwan Schumacher hatte der Berner Künstler erstmals einem Filmteam (Kamera: Pio Corradi) Einblick in sein 40-jähriges Schaffen gewährt. Markus Raetz hat den siebten Sinn für Wahrnehmungen der aussergewöhnlichen Art. Seine Werke verblüffen wie Kunststücke eines Zauberers. Sie hinterfragen unsere Sehgewohnheiten und zeigen uns die Dinge von einer ganz anderen Seite. Bei allem lohnt es sich, mehrmals und genau zu schauen. Bei seinen Überraschungsattacken auf die Sehorgane des Publikums bedient sich der «wohl Klarsichtigste aller Schweizer Künstler» unterschiedlichster Techniken, Materialien und Medien. - Bei filmingo gibt's das verspielt schöne filmische Porträt in der vollen Kinoversion.
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Unter den bildenden Künstlern gehörte Markus Raetz zu jenen, die mit unserer Wahrnehmung in der Zeit und im Raum wundersam spielen.
Film kann in Glücksfällen wie diesem Jahre auf einen Tag verdichten und aus entfernten Orten einen Ort schaffen: Jenen der unsterblichen Liebe.
À plein temps
Eric Gravel
Frankreich
88′
Julie ist alleinerziehend und arbeitet in einem Pariser Luxushotel. Als sie endlich ein Vorstellungsgespräch für eine Stelle bekommt, auf die sie schon lange gehofft hat, bricht ein landesweiter Streik aus, der das öffentliche Verkehrssystem lahmlegt. Das fragile Gleichgewicht von Julie gerät ins Wanken, und es beginnt für sie ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. Der zweite Film von Eric Gravel hatte seine Premiere 2021 in der Sektion Orizzonti am Festival von Venedig, wo er für die beste Regie und die beste Schauspielerin (Laure Calamy) ausgezeichnet wurde.
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Hektik prägt unseren Arbeitsalltag, sie hat mit der beschränkten Zeit zu tun und den Umständen. Ein Film kann dieses Gefühl direkt vermitteln.
La Flor
Mariano Llinás
Argentinien
835′
4 Frauen, 6 Episoden, 6 Genres, 14 Stunden Film: Ein Film, der mit sechs Episoden, die von verschiedenen Genres des Kinos inspiriert sind, der Filmgeschichte seine Referenz erweist. Getragen vom hervorragenden Schauspielerinnenquartett «Piel de Lava», einer Theatergruppe bestehend aus Pilar Gamboa, Elisa Carricajo, Laura Paredes und Valeria Correa. Episode 1: B-Movie (80 Minuten) Mitten im Nirgendwo wird in einem Labor für Archäologie eine wertvolle Mumie angeliefert. Kurz nach derem Auftauchen geschehen merkwürdige Dinge. Episode 2: Das Musical (133 Minuten) Ein weltberühmtes Duo soll ein weiteres gemeinsames Lied aufnehmen. Die beiden sind seit Jahren privat liiert - doch der Schein trügt, die Beziehung liegt in Brüchen. Episode 3: Der Spionagethriller (344 Minuten) Die vier Frauen verkörpern hier vier Spioninnen und Auftragskillerinnen. Sie sollen Professor Dreyfuss an einen verlassenen Flughafen bringen, doch dabei geht so einiges schief. Im Verlaufe des Films erfahren wir mehr über die Geschichten der einzelnen Figuren - jede von ihnen ist zu einem Zeitpunkt in Ungnade gefallen und musste untertauchen. Nun stehen sie in der Obhut des mysteriösen Chefs Casterman, der sie jedoch eigentlich aus dem Weg schaffen möchte... Ungeheuer spannend! Episode 4: Making-Of (239 Minuten) Ein leicht verwirrt und hochgradig cholerischer Regisseur (Mariano Llinás) hat genug von den Frauen und den langen Dreharbeiten und möchte sich für einmal Bäumen zuwenden - woraufhin die Frauen die Geschichte in die eigenen Hände nehmen. Episode 5: Stummfilm (41 Minuten) Die einzige Episode mit anderen DarstellerInnen. Ein Remake zu Jean Renoirs «Partie de campagne» (1946), ein wunderschöner Klassiker des französischen Kinos. Episode 6: Die Gefangenen (22 Minuten) In der letzten Geschichte führt uns Mariano Llinás zurück ins 19. Jahrhundert und mitten hinein in die Flucht von vier Frauen, denen es gelungen ist, nach zehnjähriger Gefangenschaft in der Wüste ihren Peinigern zu entkommen.
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Haben Sie Zeit? 835 Minuten? Diverse Genres und «Piel de Lava», das Quartett von Schauspielerinnen, das am Theaterspektakel begeisterte.
Sans soleil (1983)
Chris Marker
Frankreich
104′
In seinen filmischen Essays hat der Franzose Chris. Marker aufgezeigt, welches Potential an Fiktion in jedem Dokument steckt. Auch Lyrik gibt es, im Kino, und die Erinnerung, das sind Bilder. Eine von Chris. Markers wunderbaren Erinnerungsarbeiten heisst «Sans Soleil», ist 1983 herausgekommen und hat ihren Titel von Mussorgski entlehnt. Denn Filme sind wie Musik: Sie entfalten sich in der Zeit. Sich Zeit nehmen, das ist eine Kunst, erst recht im Zeitalter der digitalen Hektik und Beliebigkeit. Auf japanische Art beten, beschreibt Marker in «Sans Soleil»: Ein Gebet, das sich ins Leben einfügt, ohne es zu unterbrechen. Wie ein guter Film. Marker nimmt sich Zeit für die Bilder, begleitet sie in seinen Filmessays mit Kommentaren, die literarisches Format haben, und bindet uns ein in einen Prozess der Wahrnehmung. Seine Texte schaffen die unterschiedlichsten Spannungen, indem sie das Bild, zu dem sie gehören, mal ganz direkt begleiten, mal sind sie vorausgeeilt, mal liefern sie die Erklärung hintennach. Mal heben sie unmerklich ab, mal graben sie sich ein. «Wie kann man sich an Durst erinnern?» fragt der Kommentar, und im Bild sehen wir eine Afrikanerin auf einem Flussboot. Das Bild wird angehalten, eingefroren. Von Anfang an war ein Tropfen hörbar, ein Geräusch, das auch später immer wieder aufgenommen wird. In einer zunächst kühnen Assoziation schneidet Marker auf den japanischen Penner, der den Verkehr an einer vielbefahrenen Kreuzung regelt und sich damit «an der Gesellschaft rächt». Auch er kennt den Durst, aber in seiner «Erinnerung» ist es das Verlangen nach Sake. «Hitchcock hatte nichts erfunden, alles war da.» Zu dieser Erkenntnis kommt der «Vertigo»-Bewunderer Marker in «Sans Soleil». Auch die Fiktion war immer schon das, was da ist - erst in den vergangenen Jahren hat sie begonnen, in virtuelle Räume vorzudringen, und wenn es eine neue Entwicklung gibt, dann jene technische: Im virtuellen Raum ist materiell nichts Existent und doch alles da. Marker hat 1983 bereits über die elektronisch generierten und verfremdeten Bilder nachgedacht, anhand des Computerkünstlers Hayao Yamaneko, der die existierenden Bilder elektronisch bearbeitet: «Wenn die Bilder der Gegenwart sich nicht ändern, die Bilder der Vergangenheit ändern.» Mit der Zone in Andrei Tarkowskis «Stalker» hat Marker die Computerarbeit damals verglichen. Bewegen wir uns am Ende aus Zeit und Raum? Ein grossartiges Essay zur Wahrnehmung und zur Erinnerung. Geben wir Chris. Marker das letzte Wort: «Die Sache, die den meisten von uns fehlt, und vor allem den Cineasten, ist die Zeit. Die Zeit zu arbeiten, aber auch vor allem, nicht zu arbeiten. Die Zeit zu reden, zuzuhören und vor allem, zu schweigen. Die Zeit zu Filmen und nicht zu filmen, zu verstehen und nicht zu verstehen, erstaunt zu sein und zu warten aufs Erstaunen, die Zeit zu leben.» Walter Ruggle
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Chris. Marker war ein Zeitreisender in der Filmkunst, betrachtend, beschreibend, sinnierend. Ein Poet der visuellen Erinnerung.
Der Spiegel (1975)
Andrei Tarkowski
Russland
107′
Der Russe Andrei Tarkowski wollte uns in seinen Filmen nie einfache Geschichten erzählen. Er lädt uns heute noch ein, in seinen Filmflüssen aufzugehen, das wahrzunehmen, was wir selber ahnen mögen, was sich uns aber so einfach nicht zeigt. Er selber notierte: «Das Unendliche ist etwas, das der Bildstruktur immanent ist.» Am weitesten in Richtung traumhaftes Erzählen ging Tarkowski sicher in Der Spiegel, von dem man weiss, dass er sehr stark autobiografisch geprägt ist und wo man sehen kann, wie frei der Filmpoet jegliche Erzähl-Linearität aufhob, um uns zu anderen Zusammenhängen zu begleiten als jenen der zeitlichen Abfolge. Es geht ihm um Wahrnehmungen, die im menschlichen Erinnerungsvermögen weder eine lineare Struktur haben noch eine vollumfänglich teilbare Wahrheit. Ein Mann, Sohn geschiedener Eltern, bewegt sich auf der Suche nach der verlorenen Zeit und in ihr nach dem, was man als Identität bezeichnen könnte. Dabei ist hier, viel offensichtlicher als in den anderen Filmen Tarkowskis, das private Schicksal verbunden mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der Sowjetunion zwischen 1930 und den späten 70er Jahren. Der Spiegel gilt als der stärkste, aber auch am schwierigsten zugängliche Film des Regisseurs von Andrej Rubljow und Stalker. Er spielt hier mit Spiegelbildern, die auseinander hervorgehen mögen, sich selber reflektieren und ineinander verschränkt sind – wie das menschliche Denken, wie das Erinnern. Gefühle, Momente des Biografischen, äussere Ereignisse, Wahrnehmungen, Menschen und Räume: Alles fügt sich zu einem Kaleidoskop, durch das man immer wieder blicken möchte. Walter Ruggle
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Die Zeit modellieren: Das autobiographische Schlüsselwerk Tarkowskis, bei dem jeder einzelne Film ein Meisterstück im Umgang mit Zeit ist.
Die Ewigkeit und ein Tag (1998)
Theo Angelopoulos
Griechenland
133′
Zum ersten Mal seit «Die Tage von 36» (1973) scheint in einem Spielfilm des Griechen Theo Angelopoulos wieder die Sonne. Sie erinnert in «Die Ewigkeit und ein Tag» umso intensiver an die Zeit des Glücks, die Jahre zurückliegt. Alexander nimmt Abschied. Der von Bruno Ganz über verschiedene Zeiten hinweg so gegenwärtig verkörperte Poet aus Saloniki hat noch einen Tag in dieser Welt vor sich. Und die Ewigkeit - wo auch immer. Angesichts des Todes wird dem Schriftsteller das Unvollendete an der menschlichen Existenz so richtig bewusst. Und die Flüchtigkeit der Zeit. «Alles ist so schnell gegangen», stellt Alexander fest. Sie «hätte diesen Moment anhalten sollen wie man einen Schmetterling im Fliegen anhalten möchte», liest er in einem Brief seiner vor drei Jahren verstorbenen Frau. Jetzt besucht er noch einmal die Tochter, die Mutter und die Haushälterin. Jetzt nimmt er Abschied von Orten voller Erinnerungen und vom Gefühl, die Liebe im Leben verpasst zu haben beim Versuch, dem Leben in der Poesie näher zu kommen. Walter Ruggle
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Die Gegenwart der Vergangenheit ist ein Kernelement im Werk des Griechen Angelopoulos. Hier nimmt Bruno Ganz als Alexander Abschied.
mit Bonus
The Death And Life of Otto Bloom
Cris Jones
Australien
83′
Wer ist Otto Bloom? Der junge Mann erlebt die Zeit rückwärts und weiss, was passieren wird, doch er vergisst es, sobald es geschehen ist. Bald steht er im Rampenlicht von Forschung und Öffentlichkeit. Der Film von Cris Jones lädt uns mit seiner schönen Liebesgeschichte ein auf eine exquisite Zeitreise, lässt uns über unsere Wahrnehmung von Zeit und die Ungewissheit der Liebe sinnieren. Ein unterhaltsames wie anregendes Seherlebnis. Er hat einen Allerweltsnamen, alles andere als auffällig. Der Name ist aber auch alles, was Otto Bloom weiss, als die Polizei ihn in einer Notunterkunft aufgreift. Die betreuende Psychologin Ada zweifelt bald einmal am Befund Gedächtnisschwund, und dann macht sie die sensationelle Entdeckung: Otto Bloom lebt sein Leben rückwärts. Er weiss nicht, was war, aber er erinnert sich an das, was kommt. Cris Jones war bereits mit seinen ausgesprochen originellen Kurzfilmen aufgefallen, in denen er gewöhnliche Dinge aus unserem Alltag ziemlich verwegen auf den Kopf stellt. In seinem Spielfilm knüpft er sich nun unsere Wahrnehmung von Zeit vor und treibt ein erfrischendes und unterhaltsames Spiel damit. Einerseits rein formal, indem er uns die Geschichte von Otto Bloom, der in den 1980er Jahren Aufsehen erregt hat, als sehr real mit Hilfe einiger Menschen erzählt, die ihn kannten. Andererseits, weil er in Szene setzt, was Bloom erlebte und wie andere es wahrnahmen. Im Kern ist das die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Psychologin und ihrem Patienten, einfühlsam erzählt, aus unterschiedlichen Blickwinkeln inszeniert. Suchen und Finden in einem. Die Liebe ist freilich eine aussergewöhnliche, denn wer wollte schon mit einem Mann oder einer Frau zusammen eine Nacht oder mehr noch verbringen im Wissen, dass der/die andere gleich nicht mehr weiss, wie heiss es eben noch zu und her ging. Der selber jung verstorbene Cris Jones unterhält uns nicht nur glänzend, er betrachtet wie nebenbei auch Fragen, die uns im Leben und Lieben beschäftigen mögen. Was war? Was ist? Was wird sein? Eine nicht ganz alltägliche Seherfahrung, die nachwirkt und die man so schnell nicht vergisst. Walter Ruggle
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Was wäre, wenn einer die Zeit rückwärts durchläuft? Das Kino kennt da keine Grenzen, und dieser Versuch spielt tollkühn mit der Zeit.
Ajami (2009)
Scandar Copti und Yaron Shani
Israel
120′
Nominiert für die Oscars als bester fremdsprachiger Film lässt uns AJAMI spannungsgeladen erkennen, dass alles, was wir wahrnehmen, auch anders sein kann, als wir es meinen. Tel Aviv, Jaffa, Ajami. Hier ist das Babel der Gegenwart, das Leben ein permanenter Ausnahmezustand. Verfeindete leben hier als Nachbarn auf engstem Raum. Omar, der sich in die junge Hadir verliebt hat, wird in einen Streit mit einer mächtigen arabischen Familien verwickelt und von ihrer Rache verfolgt. Ihm bleibt nur die Flucht, und dennoch kann er die Stadt und Hadir nicht verlassen. Seine letzte Chance ist, das von einem islamischen Richter festgesetzte – und unbezahlbare – Schuldgeld aufzutreiben. Auch Omars Freund Malek braucht dringend Geld, denn seine Mutter ist schwer krank. Um die Behandlung bezahlen zu können, arbeitet er illegal in Israel. Das Leben des jüdischen Polizisten Dandys nimmt eine tragische Wendung, als sein Bruder spurlos verschwindet. Zutiefst überzeugt, dass er Arabern in die Hände gefallen sein muss, schwört er Rache. Während er das Schicksal seines Bruders aufzuklären versucht, bietet sich Malek und Omar ein vielversprechendes Geschäft mit zwielichtigen Drogenhändlern. Doch die Ereignisse geraten ausser Kontrolle. Omar, Malek und Dando werden in einen hochspannenden Krimi verwickelt, der alles verändern wird. ****** Wahrnehmung und Wirklichkeit Klar: Viele sind des Konflikts im Nahen Osten überdrüssig und stecken Nachrichten über neue Eskalationen zwischen Palästina und Israel als alltäglich weg. Der Spielfilm Ajami gehört zu jenen Projekten, die deutlich ma-chen, dass es miteinander viel besser geht als gegeneinander: Mit Yaron Shani und Scandar Copti haben ein Israeli und ein Palästinenser sich daran gemacht, das zu beweisen und das Zusammengehen umzusetzen. Ihr packender Spielfilm, der mit einer offiziellen Oscar-Nomination gewürdigt wurde, ist auf dem Boden des Nahost-Konflikts entworfen und vor dem Hintergrund der religiös mit geprägten Span-nungen in Szene gesetzt, aber er handelt von ganz grundlegenden Fragen und führt uns eindrücklich vor Augen, wie stark eingeschränkt unsere Wahrnehmung immer ist, wie sehr wir dazu neigen, aus Elementen der Wirklichkeit Wahrheiten zu destillieren, um handkehrum festzustellen, dass es doch anders war, als wir eben noch gemeint hatten. So ist denn mit Ajami, völlig unabhängig vom lokalen Konflikt, ein bewegender Film über das Zusammenleben unter erschwerten Bedingungen entstanden, ein Film, bei dem wir uns mehrfach in derselben Situation ertappen, in der sich auch mehrere seiner Hauptfiguren wieder finden: War das eben doch nicht so, wie wir es gemeint hatten? Für uns im Kino hat das keine weiter reichenden Folgen als die, dass wir erkennen, was ein veränderter Blick-winkel (im wahrsten Sinn des Wortes) bewir-ken kann. Für die Figuren der Geschichte kann die falsche Interpretation von etwas Gesehe-nem tödliche Folgen haben. Der Film ist so raffiniert gebaut, dass er dieselbe Geschichte aus mehreren Perspektiven erzählt, ohne sie einfach zu wiederholen, vielmehr um uns mehrmals eine ganz andere Ansicht und Einsicht zu gewähren. Das enthält Sprengkraft. Walter Ruggle
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Zeit gestalten kann auch heissen: Den gleichen Zeitabschnitt aus mehreren Perspektiven erzählen. Selten ist das so raffiniert wie hier.
Im Zen-Buddhismus wird die Dimension der Zeit gelebt. Wenn ein Filmer es geschafft hat, dies visuell umzusetzen, dann dieser Südkoreaner.
Zeit im Film gestalten kann heissen, die Implosion einer Figur sichtbar zu machen. Das hat viel mit Rhythmus zu tun, mündend in Ekstase.
Fish & Cat
Shahram Mokri
Iran
135′
Einmal mehr überrascht das iranische Kino mit einem Regisseur, der neue Wege beschreitet. Shahram Mokri hat seinen zweiten langen Film nicht nur in einer einzigen Einstellung gedreht, er trickst dabei auch noch den linearen Lauf der Zeit mit verblüffenden Erzählschlaufen aus. Sein Verfahren passt perfekt zur Geschichte zwischen Alltag und Alptraum, in der drei Köche mit dubiosem Fleischgeschmack auf eine Gruppe junger Camper treffen. Was für eine prächtige Schlaufe! Fish & Cat beginnt wie ein klassischer Thriller: mit der Ankündigung, dass der Film auf einer wahren Geschichte beruhe, mit dem Verweis auf einen Fall in den 1990er Jahren, wo ein paar Studenten spurlos verschwunden und drei Restaurantbetreiber wegen Verwendung von Menschenfleisch angeklagt worden seien. Mit dräuender Musik und einer Inschrift, die in blutroter Farbe ertrinkt. Doch mit diesem Vorspann lockt uns Shahram Mokri bereits zum ersten Mal auf eine falsche Fährte: Alles, was folgt, sehen wir jetzt vor der Drohkulisse von Mord und Kannibalismus. Tatsächlich geht es Mokri aber gar nicht um die blutige Moritat, sondern um ein Erzählexperiment. Mit zweien seiner drei dubiosen Köche und ihrer Lotterbude von Restaurant treffen wir in einem winterlichen Wald zunächst auf ein Auto voller Studenten, die sich verfahren haben. Und mit den zwei Köchen streifen wir sodann durchs Gehölz, hören die zwei über Musik schwadronieren, treffen auf einen weiteren Studenten und dessen Vater - und merken nach und nach, dass wir seit einer halben Stunde keinen einzigen Schnitt gesehen haben. Doch damit nicht genug. Mokris virtuose Handkamera folgt plötzlich nicht mehr den Köchen, sondern dem einen Studenten. Und als dieser an einem Seeufer auf junge Camper trifft, heftet sie sich unversehens immer wieder an neue Figuren und lanciert damit eine Erzählstaffette. Doch auch mit diesem Kabinettstücklein - bei anderen Virtuosen der langen Einstellung bisweilen gesehen - nicht genug. Unversehens geraten wir mit Mokris umherstreifenden Figuren an Orte in Zeit und Raum, an denen wir schon einmal waren. Vor unseren Augen mutieren die alltäglichen Geschehnisse ins Irreale, gerät die Zeit aus den Fugen und der Lauf der Erzählung zur unauflöslichen Schlaufe. Doch auch damit noch nicht genug. Mokris Figuren erzählen sich fortlaufend Anekdoten, deren Logik so unauflösbar ist wie Mokris Erzählung selbst: Das Leben als Traum mit fatalem Ausgang. Wem dies am Ende zu wenig Thriller ist, dem sei dies zum Trost verraten: Es kommt zuletzt doch noch zu einem Mord, vom Mordopfer selber geschildert. (afu)
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Rashomon (1951)
Akira Kurosawa
Japan
88′
Das legendäre Meisterwerk in neuer Kopie und neuer Übersetzung! Zwei Erzählungen des Dichters Akutagawa Ryunosuke waren der Ausgangspunkt für RASHOMON, einen der besten Filme der gesamten Filmgeschichte. Die eine liefert die Rahmenhandlung unter dem titelgebenden Rashomon, dem Südtor des alten Kyoto, die andere das Mark von Kurosawas Filmhandlung. Sie berichtet von einem Todschlag auf der Wegstrecke von Sekiyama nach Yamashina, dem darauffolgenden Prozess gegen den Banditen Tajomaru (Toshiro Mifune) und der versuchten Verarbeitung des Geschehens durch einen Priester, einen zufälligen, Fragen stellenden Passanten und jenen Holzfäller, der den Tathergang mitverfolgt haben will. Die drei stellen fest, dass vor Gericht vier Aussagen gemacht wurden und dass sich diese in ganz wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden, ja widersprechen. Wo also liegt die Wahrheit, sind doch alle Versionen in sich stimmig und glaubwürdig. Gibt es überhaupt so etwas wie eine «objektive», von allen teilbare Empfindung von Hergängen oder erleben wir alle ein Geschehen so, wie es uns unter den jeweiligen Umständen gerade am besten passt? Akira Kurosawa präsentiert dem Publikum, das er in die Rolle der Geschworenen versetzt, die einzelnen Schilderungen des Tathergangs, und zwar in Rückblenden, die die Vergangenheit eben in der Gegenwart der Erzählung aufleben lassen. Jeder Tathergang wird damit zur möglichen Wahrheit. In jedem Ablauf verhalten sich die Figuren anders, zum Teil grundlegend anders. Gleichbleibend sind der Ort des Geschehens, eine kleine, lichte Stelle im Wald, und die drei Personen: ein stolzer Samurai, seine göttlich schöne Frau und der Bandit. Klar ist auch, dass der Samurai am Ende tot ist. Bleibt die Frage, wie es dazu kommen konnte.
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Dreimal dieselbe Geschichte, drei Wahrheiten: Der grandiose Klassiker in Sachen Wahrnehmung und Erinnerung spielt subtil mit der Zeit.
Mit «Parasite» hat sich Bong Joon-ho die grossen Preise des Kinos geholt; in diesem Film hier dringt er zurück in der Zeit eines Kriminalfalls.