Carmen Stadler

Die Schweizer Filmemacherin, Drehbuchautorin und Regisseurin Carmen Stadler schickt in ihrem ersten Spielfilm «Sekuritas» ein Bürogebäude auf die Suche nach der Liebe. Auf filmingo präsentiert sie ihre Lieblingsfilme und verrät euch, warum diese Filme sie besonders berührt oder inspiriert haben.

Cold War
Paweł Pawlikowski
Polen
88′
Eine Liebesgeschichte für die Ewigkeit: Wiktor begegnet Zula bei einem Vorsingen. Er engagiert die eigensinnige junge Frau mit der göttlichen Stimme ohne gross nachzudenken. Zwischen den beiden entflammen sofort heftige Liebesgefühle, ihre Leidenschaft scheint keine Grenzen zu kennen. Doch Wiktors Künstlergruppe wird zunehmend politisch vereinnahmt. Anfangs der 1950er-Jahre nutzt er einen Auftritt in Ostberlin, um sich in den Westen abzusetzen. Während Wiktor in Paris den Jazz entdeckt, führt die in Polen gebliebene Zula ihre eigene Karriere fort. Vergessen können sich die beiden nicht – und in Warschau, Paris oder Split führt das Leben die Liebenden immer wieder für kürzere oder längere Zeit zusammen. Pawel Pawlikowski lässt seinem Spielfilm «Ida», für den er 2014 einen Oscar gewonnen hat, ein weiteres Meisterwerk folgen: In «Cold War – Der Breitengrad der Liebe» erzählt er von der unbändigen Kraft der Gefühle, von einer Amour fou im Strudel der Zeit. Sein am Festival in Cannes mit dem Regie-Preis ausgezeichneter Film überzeugt mit einer starken Geschichte, die in ihrer brillanten Intensität lange nachwirkt. Zauberhaftes Kino mit wundervollen Bildkompositionen und hinreissender Musik.
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«Ein reifer, tiefer Film wie ein Folklore-Jazzsong (oder ein jazziger Folklore-Song), der atemberaubend virtuos mit den besten Filminstrumenten spielt. Über die Einfachheit und Unergründlichkeit der Liebe. In seinem Buch «Sculpting in Time» schreibt Andrei Tarkowski, das Publikum schaue sich Filme nicht rein aus Unterhaltungswillen an, sondern auch um neue Lebenserfahrungen zu gewinnen. Der Film erweitert und verlängert unsere Lebenszeit. ‹Cold War› schenkte mir ein leidenschaftliches Jahr.»
Höhenfeuer (1985)
Fredi M. Murer
Schweiz
114′
Unter den Schweizer Bergfilmen ist Fredi Murers «Höhenfeuer» sozusagen das Pièce de résistance: Die Geschichte von der Bauerntochter Belli und ihrem tauben Bruder Bueb, die mit ihren Eltern auf einem Hof über einem jener Bergtäler leben, aus denen es einen in die Höhe drängt, an die Sonne und an einen Ort, an dem es weniger eng wirkt. Die Enge mag sich an den steilen Hängen dann anderswie wieder einstellen, denn sie gehört in dieser Weltgegend offenbar dazu. Ausgerechnet der gehörlose Sohn ist es, der die Familie von Zeit zu Zeit zum Reden bringt, über ihn und seine Eigenheiten und die besonderen Erfahrungsformen. «Höhenfeuer» ist ein Berglerfilm und ein Heimatfilm im besten Sinn des Wortes. Er hat tiefe Wurzeln, die ihn so zum Blühen bringen, dass das, wovon er erzählt, überall verstanden wird. Einsamkeit kennt keine Geografie, aber sie gründet auf engen Voraussetzungen. Ausgezeichnet mit dem Goldenen Leoparden von Locarno wurde «Höhenfeuer» inzwischen in zwei verschiedenen Umfragen zweifach zum Besten Schweizer Film aller Zeiten erkoren.
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«‹Höhenfeuer› sah ich das erste Mal mit 23 Jahren an der Filmhochschule. Ein konzentriertes, mysteriöses Filmerlebnis mit wuchtigen, sinnlichen Bilder, die beinahe duften und die ich nicht vergessen will. Verwirrt habe ich mich damals gefragt, weshalb ich eigentlich nicht mit dem Schweizer Film aufgewachsen bin?! Alles, was ich damals im Spielfilmbereich zu sehen bekam, kam zu 50% aus Amerika, 20% aus Deutschland, 20% aus England und 10% Prozent aus Frankreich. Wo wären wir heute, hätte man die Schweizer Spielfilmkultur in ihrer Eigenheit gestärkt? Ein Knicks für ‹Höhenfeuer› und all die unentdeckten, vielleicht unverfilmten Schweizer Filme dahinter. Manchmal wehen sie noch irgendwo in der Luft. »
«Ein sorgfältig gewebtes, grosses und eigenwilliges Filmwerk. Es inspirierte den kürzlich verstorbenen Filmemacher Kim Ki Duk zu weiteren Meisterwerken und eignet sich besonders für die neugierigen Tage (und Nächte), an denen man sich zugeneigt und unbefangen auf eine filmische Meditation einlassen will. Moment für Moment funkelnde, lebendige Präsenz, die sich mit allem verbindet. Oder anders gesagt: ein anspruchsvoller, dichter Film. Für die einen langatmig, für die anderen grenzüberschreitend. »
Tokyo Monogatari - Reise nach Tokyo (1953)
Yasujiro Ozu
Japan
137′
Ein Meisterwerk des japanischen Kinos und einer der schönsten Filme über familiäre Beziehungen überhaupt. Die Grosseltern Shukichi und Tomi Hirayama beschliessen, ihre erwachsenen Kinder und deren Familien in Tokyo zu besuchen. Dort angekommen erkennen sie, dass der älteste Sohn Koichi, ein Arzt, und die älteste Tochter Shige, die einen Schönheitssalon betreibt, wenig Zeit für sie haben. Einzig Noriko (Setsuko Hara), die Witwe des im Zweiten Weltkrieg gefallen Sohns, bemüht sich um ihre Schwiegereltern. Nach nur wenigen Tagen in Tokyo schieben Koichi und Shige ihre Eltern in ein Seebad ab. Dort fühlen sie sich aber umgeben von feiernden Jugendlichen auch nicht wohl, so dass sie nach Tokyo zurückkehren. Shukichi verbringt einen Abend mit ehemaligen Freunden und Nachbarn in einer Kneipe, während Tomi diese Nacht bei Noriko schläft. Bei der Rückfahrt in den Heimatort erkrankt Tomi schwer, weshalb die Reise bei dem jüngsten Sohn in Osaka unterbrochen werden muss. Zurück in der eigenen Wohnung verschlechtert sich Tomis Zustand, und die Kinder eilen an das Sterbebett ihrer Mutter. Nach der Beerdigung reisen alle Kinder möglichst schnell wieder ab, einzig die Schwiegertochter Noriko und die noch im Elternhaus lebende jüngste Tochter bleiben bei Shukichi zurück. Die britische Zeitschrift «Sight & Sound» macht alle fünf Jahre eine Umfrage unter FilmkritikerInnen und Filmschaffenden, um die besten Filme aller Zeiten zu ermitteln. Ihr zufolge sind eine ganze Reihe von Filmen aus der Kollektion trigon-film unter den all time favorites. «Tokyo monogatari» von Yasujiro Ozu steht unter den Lieblingen der Filmschaffenden auf Rang 1 - Und dies nicht nur auf dieser Liste. Martin Walder schrieb: «Das Wunder Ozu: Der neben Kurosawa und Mizoguchi dritte berühmte Klassiker des japanischen Films in der Mitte des letzten Jahrhunderts hat einen unerhörten Reinigungseffekt für (kino-)verdorbene Sinne. Wie schlicht sind diese Filme, wie wundersam schön, wie genau! - Seine Radikalität hat in der Filmgeschichte Massstäbe gesetzt.»
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«Ein klarer, (er-)leuchtender Film über den Bund der Familie und eine Zeitreise nach Japan. Kompromisslos schlicht, emotional, subtil, konstruktiv und niemals alt. Yasujiro Ozu ist ein stilvoller und hingebungsvoller Gastgeber, der einem reinen Sake einschenkt und das Wesentliche zeigt.»
«Ein Film aus der anderen Ecke der Welt, der mir gleichzeitig ein Zuhause und ein filmischer Honigtopf ist. Geheimnisse, Märchen, Freakshows und Alltägliches aufregend, tiefsinnig und locker erzählt. Mit aufgestellten Nackenhaaren strahle ich verzaubert aus der Kristallgrotte und die verirrte Kuh im Dschungel an. : ) Mir wurde mal gesagt, ein Film über den Alltag, der brauche Glanz. At its best! Ein Film, der mir Mut machte.»
«...weil Haneke bei einem so scharfkantigen, beziehungsarmen Film über die Liebe eine Filmfigur gefühlte zehn Minuten staubsaugen lässt. Das zeugt von Mut, (vielleicht seinem) Humor und darf leider (fast) nur er. »
El abrazo de la serpiente
Ciro Guerra
Kolumbien
124′
Zwei Forscher dringen ins Innerste des Amazonas vor: Der deutsche EthnologeTheodor Koch-Grunberg im Jahr 1909, der nordamerikanische Botaniker und Abenteurer Richard Evan Schultes im Jahr 1940. Begleitet werden beide vom gleichen Schamanen, der selber der einzige Überlebende eines ausgelöschten Stammes ist und sie je zum Ziel ihrer Wünsche fuhren soll: Sie suchen eine im Urwald verborgene Wunderpflanze. Absolut halluzinierend. Apocalypse Now am Amazonas. Der Kolumbianer Ciro Guerra hat schon in früheren Filmen sein erzählerisches Talent bewiesen; in diesem mutigen Epos setzt er einen Massstab im Umgang mit der Erzählung aus dem Amazonas. Zusehends wandeln sich in «El abrazo de la serpiente» die beiden realen historischen Handlungen zum zeitüberschreitenden spirituellen Abenteuer, zum bildgewaltigen psychedelischen Trip, wie man ihn seit «Apocalypse Now» von Francis Ford Coppola nicht mehr in dieser Intensität gesehen hat. Joseph Conrad lässt auch hier mit seinem Roman «Heart of Darkness» grussen, der Mekong dort, der Kongo da und nun dieser Amazonas. Packend, wie uns Guerra uber Mensch, Natur und die destruktive Macht des Kolonialismus nachdenken lässt, wie er die Rollen umkehrt, unvergesslich seine Tauchfahrt ins Innere des immensen Regenwalds. Erst ganz am Ende des sehr bewusst und in prächtigem Licht-Schattenspiel in Schwarzweiss gedrehten Films taucht er mit seiner Breitwand-Kamera, die von David Gallego präzis geführt wird und den Sog des Orts erfasst, auf aus dem Regenwald, in dem wir uns zwei Stunden lang bewegt haben, verschafft einen Überblick über die schiere Unendlichkeit des Amazonasbeckens und lässt uns aufatmen. Zumindest wir sind noch einmal davongekommen. Was für ein ausserordentlicher Sehgenuss. Walter Ruggle
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«Ein weises, gewaltiges Beziehungsdrama zwischen Mensch und Natur. Kunstvoll, dringend, divine. Ich komme nicht aus dem Staunen, trinke einen schmerzenden Schluck aus dem Amazonas und gleite im schwarzen Satin der Lichtbilder. Eine filmpoetische Initiation.»